Am Ende der Welt

 von Peter Gebhard

Zu uns in den chilenischen Dschungel am Río Bravo kommen inzwischen auch Touristen, es weht ein frischer Wind. Jeder möchte unser kleines Venedig sehen! Es ist ein besonderer Ort. Hier fühle ich die Natur, hier bin ich mit der Erde verbunden und unabhängig…

Die schlaglochübersäte Schotterpiste der Carretera Austral windet sich durch die düstere Landschaft, die nach würzig-modrigem Holz riecht. Zu beiden Seiten der kurvigen Piste zieht sich ein regendurchtränkter, dicht bewödeter Sumpfteppich die Hänge hoch. Zwischen wabernden Wolken schimmern gigantische Felskolosse hindurch, auf denen türkisfarbene Eiskappen thronen. Überall sucht sich das Wasser seinen Lauf, schießt Abgründe hinunter, schäumt über Geröllfelder, gluckert durch Hochmoore.

Unten am Meer kamen auch die Straßenbaupioniere der chilenischen Armee nicht weiter, denn die Granitwände fallen senkrecht in den Ozean ab. Eine Fähre überwindet den lang gestreckten Fjord, bevor sich die Carretera Austral noch 100 Kilometer weiter bis zu ihrem vorläufigen Endpunkt, dem Dorf Villa O’Higgins schlängelt. Bei meiner Ankunft am Kai tuckert die Fähre bereits aus der geschützten Bucht hreaus ans andere Ufer. Man hatte am Tag zuvor auf den Winterfahrplan umgestellt, aber nur hier am Anleger gibt es eine karge Information zur vorverlegten Abfahrt. Die nächste Fähre soll erst am nächsten Vormittag verkehren. Was tun im Dauerregen? Kein Dorf in der Nähe, keine Unterkunft, nichts außer dem Militäraußenposten Purto Yungay.

Peter Gebhard

Jeden Morgen Flagge hissen

Zwanzig Jahre zuvor stand hier noch ein großes Camp der Straßenbauingenieure, heute wachen drei pausbäckige Soldaten über die Baracken. Es gibt nicht viel mehr zu tun als morgens die Flagge zu hissen und abends den Generator anzuwerfen. Unverhofft bringe ich Abwechslung in ihren monotonen Alltag und werde fast wie eine ausländische Staatsdelegation hofiert. Der Trommelwirbel stammt jedoch vom Dauerregen, der seit Tagen unablässig auf dieses Stück Erde herunterprasselt.

Am nächsten Morgen schüttet es nicht mehr aus Kübeln, stattdessen ein sanftes, beständiges Nieseln aus einer konturlosen grauen Wolkenmasse. Unten an der Kaimauer warten zwischen Pfützen noch zwei weitere Jeeps und ein halbes Dutzend Passagiere auf das Fährschiff. Auf der halbstündigen Überfahrt komme ich mit Silvia ins Gespräch. Die hübsche Chilenin reist mit dem Rucksack und will ihre Tante am Rio Bravo besuchen. Ich nehme sie ein Stück mit und erfahre so mehr über ihr wechselvolles Leben, ihre Kindheit und Jugend in Tortel, einem bis vor kurzem isolierten Holzfällernest an der sumpfigen Müßndung des Rio Baker. Keine Straße führte dorthin, 300 Regentage im Jahr, alles steht im Ort auf hölzernen Pfählen und Planken.

Foto: Peter Gebhard

Silvia flüchtete mit 16 Jahren aus der Enge und Abgeschiedenheit von Tortel – erst nach Punta Arenas und später nach Santiago. Sie begann Jura und Informatik zu studieren, doch das Geld für den Abschluss fehlte: tagsüber versorgte sie als allein erziehende Mutter ihre beiden Töchter und jobbte nebenher, nachts paukte sie für die Uni – zuviel selbst für sie. Nach einem Jahrzehnt in der Glitzerwelt der Großstadt spürte die Frau, die fast Rechtsanwältin geworden wäre, dass ihre Heimat trotz aller Düsternis doch in den bewaldeten Fjorden Patagoniens liegt.

„Hier fühle ich wieder die Natur, hier bin ich mit der Erde verbunden und unabhängig“, sagt sie mit einem Lächeln und streicht ihr langes pechschwarzes Haar aus der Stirn. „Nach Tortel kommen durch den Straßenanschluss inzwischen auch Touristen, es weht ein frischer Wind. Jeder möchte unser kleines Venedig sehen!“. Silvia entwirft und baut die Verkehrsadern Tortels, die pasarelas, hölzerne Gehsteige. Sie fällt Bäume mit der Motorsäge und knüpft Wollteppiche, sie kocht Marmelade und kennt die Flechten im Urwald beim lateinischen Namen. Sie ist ein Lichtblick in der düsteren Landschaft. Jetzt will die außergewöhnliche Frau bei ihrer Tante am Rio Bravo Lachse fischen, denn nun im Herbst schwimmen bis zu 15 Kilogramm schwere Prachtexemplare vom Pazifik zu ihren Laichplätzen hoch.

Foto: Peter Gebhard

Mate-Tee und Minnegesang für Pferde

Auf dem Weg zur Tante steht plötzlich mitten im kalten Dschungel ein großes, braun geschecktes Pferd mutterseelenallein auf der Schotterpiste. Es gehört Eliano, dem nächsten Nachbarn in fünf Kilometer Entfernung. Mann nennt ihn hier am Rio Braco nur „El Loco“, weil er seine Pferde sogar in seine Hütte lässt und ihnen mit seiner Gitarre sentimentale Lieder vorspielt – liebenwerte kleine Macken, die in vielen Jahren der Einsamkeit allmählich entstanden sind. Aus seiner Holzhütte steigt Rauch, vor uns steht ein trotz seiner 687 Jahre kräftiger Mann mit Baskenmütze und graumeliertem Bart und bittet uns zum Mate-Tee hinein. Er kann nach einem Arbeitsunfall im Wald endlich wieder reiten und gehen, doch in seinem zerknitterten Robert-de-Niro-Gesicht steht auch viel Verbitterung geschrieben. Er liebt immernoch seine Freiheit hier am Ende der Welt, doch mittlerweile hasst er den ewigen Regen und den düsteren, alles verschlingenden Wald. Beim Abschied holt er seine Gitarre aus einer dunklen Ecke hervor, lehnt sich an den Türrahmen und spielt seine melancholischen cuecas – ein Minnesänger mit seiner Handvoll Pferden als einzigem Publikum.

Foto: Peter Gebhard

Mitten im Nichts liegt ein kleines Ruderboot am Flussufer im Gebüsch versteckt. Silvia klettert mit ihrem Rucksack den Abhanh hinunter und quert in der Dämmerung den Rio Brdavo mit kräftigen, gezielt gesetzten Ruderschlägen. Sie weiß um die beste Passage durch Strudel und Strömung ans andere Ufer. Ihre Tante wurde es vor Jahren in Tortel nach Ankunft der Straße zu hektisch und laut, sie zog mit ihrem Mann in den Dschungel am Unterlauf des Rio Bravo. Im Zwielicht erkenne ich eine spärlich beleuichtete Holzhütte, zwei Schuppen und ein Gewächshaus auf einer gerodeten Lichtung. Helle Stimmen hallen durch den Urwald über den Fluss herüber – Wiedersehensfreude am Ende der Welt…

Text und Fotos: Peter Gebhard

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